„Double Sexus“ Louise Bourgeois trifft auf Hans Bellmer in Berlin
1982 war ein Jahr der Umbrüche. Kohl wurde Kanzler, Abba lösten sich auf und in New York fand eine historische Premiere statt: Das MoMA richtete das erste Mal in seiner Geschichte eine große Retrospektive für eine Künstlerin aus. Die gefeierte Schau markierte zugleich einen späten Durchbruch. Die damals 71-jährige Louise Bourgeois wurde quasi offiziell zur bedeutendsten amerikanischen Nachkriegskünstlerin erhoben.
…Genital und Genius …
Eine Premiere feiert in diesem Jahr auch die Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin. Zum ersten Mal wird in einer Ausstellung das Werk der 1911 in Paris geborenen Künstlerin mit dem des Fotographen, Bildhauers und Malers Hans Bellmer (1902-1975) in Beziehung gesetzt.
Das wurde auch Zeit, könnte man meinen. Denn obwohl sich die beiden Künstler zeitlebens nie begegnet sind, mangelt es nicht an Korrespondenzen. Bei beiden bildet das Sexuelle, die Fantasien und (Alb-)Traumvisionen des Körperlichen das drastische Zentrum. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede spiegeln der Titel der Schau: „Double Sexus“. Er begründet sich zunächst aus der auf den ersten Blick erstaunlich ähnlichen Gestaltungsweisen der beiden Geschlechter. Beide Künstler haben ein ausgesprochen großzügiges Verhältnis zur Verarbeitung von Geschlechtsorganen. Und bei beiden nimmt die explizite Thematisierung des Sexuellen ähnliche Formen an: Vervielfachte, verformte oder fehlende Körperteile. Gestalten mit vier Brüsten, aber ohne Arme, geschlechtliche Mischwesen. Aber sichtbar werden auch die Unterschiede der Künstler, der männlichen und weiblichen Perspektive.
…die provokanten Puppen …
Hans Bellmer war Puppenspieler. Wobei Verspieltheit vielleicht nicht unbedingt als Primäreigenschaft des im polnischen Kattowitz geborenen Künstlers gelten mag. Lebenslang widmete er sich dem weiblichen Körper, genauer: der weiblichen Anatomie. Fantasierte sein Ideal der Frau als Puppe. Wo seine spätere Lebensgefährtin, die Anagrammlyrikerin Unica Zürn, die Buchstaben eines Satzes zu Gedichten re-kombinierte, zerteilte, duplizierte und gruppierte Bellmer Körperteile zu Skulpturen.
Anfang der 30er Jahre schuf er seine erste „Puppe“. Aus Gips, Holz, Echthaar und einer Gesichtsmaske formte er ein weibliches Ersatzwesen, das er in immer neuen Positionen und Formationen arrangierte und fotographierte. Die Fotoserie wurde in der Surrealistenzeitschrift „Minotaure“ veröffentlicht und gefeiert.
Bellmer war eine Entdeckung für die Surrealisten, die bekanntlich der Bloßlegung und Befreiung des unterdrückten Unbewussten, insbesondere des Sexus, gesellschaftliche Sprengkraft zumaßen. … Erotomane und Meister erotischer Kunst… Kaum überraschend war für konservative Kreise Bellmer‘s Kunst vor allem Skandal. Aber auch in unserer, doch etwas entspannteren Gegenwart, mögen spöttische Stimmen bemerken, dass seine Traumgeburten immer auch Anschauungsmaterial für all jene sind, denen zwei Schlüsselreize allein nicht reichen; dass Bellmer‘s Puppenfrau bewundertes Wunschbild und zugleich Machtfantasie totaler Form- und Manipulierbarkeit sei: Fetisch. Manchen gilt er deshalb als obsessiver Erotomane, anderen als anarchistisch abgründiger Meister der erotischen Kunst. Wir überlassen an dieser Stelle das abschließende Urteil dem Auge des Betrachters.
… Muttergottheit und griesgrämiger Penis …
Louise Bourgeois ihrerseits inszeniert ihre Körpercluster mit Ironie. „Fragile Goddess“, also zerbrechliche Göttin benennt sie etwa eine ihrer Stoff-Skulpturen. Und mit den prallen Brüsten und dem schwangerschafts- gewölbten Leib orientiert sie sich offensichtlich an steinzeitlichen Fruchtbarkeitsgöttinnen, etwa der berühmten wohlgenährten Venus von Willendorf. Fragil ist an ihr höchstens der Hals, der kaum zufällig Assoziationen an das primäre männliche Geschlechtsmerkmal aufdrängt. Eine andere Skulptur widmet sich augenscheinlich explizit diesem männlichsten Sujet.
Zu sehen ist ein griesgrämiger Penis. Gehüllt in ein Mäntelchen aus loser Vorhaut. Sozusagen frei nach dem deutschen Kinderlied „Ein Männlein steht im Walde“. Der Titel der Skulptur: „fillette“ – kleines Mädchen. „Na, wer oder was ist denn hier das Mädchen“ will uns die Künstlerin wohl fragen.
…Ironie der Triebnatur…
Auch ihre „Naturstudie“ ist natürlich nichts weniger als eine harmlos, beschauliche Landschaftsskizze. Stattdessen ein Konglomerat aus Brüsten, Hinterbacken und Schenkeln. Die Steckfigur aus weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen auf Tierpfoten wird zur ironischen Studie der menschlichen Triebnatur. Dabei betreibt Louis Bourgeois ihre spöttischen Unterspülungen der Geschlechterrollen ohne jede Verbissenheit. Immer aufs Neue zelebriert sie ihre Kunst um den Körper – so genüsslich wie lustvoll.
Double Sexus
Hans Bellmer
Louise Bourgeois
24. April – 15. August 2010
Sammlung Scharf-Gerstenberg
Schloßstr. 70, 14059 Berlin
Öffnungszeiten
Di – So 10-18 Uhr
Montags geschlossen